Minsk Belarus Obere Stadt
Minsk, Obere Stadt

IT-Land und Drehkreuz zwischen Asien und Europa:

30 Jahre nach Ende der Sowjetunion beschreitet Belarus eigene Entwicklungspfade

Svetlana Alexeeva

Ein internationales Medienforum in Minsk zum Thema „Digitale Agenda für die Medienlandschaft" – die Einladung des belarussischen Ministeriums für Information stimmte neugierig. Nicht nur auf die digitale, sondern auch die allgemeine, gesellschaftliche Transformation von Belarus nach der Wende 1991. In keinem anderen Nachfolgestaat der ehemaligen Sowjetunion sollten die Attribute der sozialistischen Vergangenheit noch so präsent sein wie hier. Trifft das Bild zu und wie passt es zum gegenwärtigen Digitaltrend?

Das Zentrum der Hauptstadt Minsk gleicht tatsächlich einer Filmkulisse. „Prospekt Nezalezhnosti", die zentrale Prachtstraße, beeindruckt mit einem zusammenhängenden Ensemble aus jenen neoklassizistischen, dekor- und stuckreichen Bauten, wie es sie in der sozialistischen Architektur bis etwa 1956 gab. „Wir wollen es bei der UNESCO als Weltkulturerbe anmelden", teilt der Reiseführer beim Stadtrundgang mit. Die eigentliche Altstadt ist hübsch und kompakt. Viele der hauptstädtischen Museen widmen sich der nationalen Geschichte, besonders dem Kriegsgedenken: Im Zweiten Weltkrieg kam mindestens jeder vierte Bürger ums Leben. Dass Belarussen eine äußerst sportbegeisterte Nation ist, merkt man schnell an zahlreichen Sportobjekten – Stadien, Arenen, Eishockey- und Radhallen. Das jüngst aufwendig renovierte Olympische Dynamo-Stadion ist ein wahrer Solitär aus der sowjetischen Zeit. „Wir bereiten uns bei laufendem Betrieb auf die Europaspiele im Juni 2019 vor“, erklärt Dynamos Generaldirektor Wassilij Alekseenko sichtlich stolz. Alles sei „nach den neuesten Standards“. Was sogar der FC Chelsea zu schätzen wisse, der Trainingsspiele auf dem neuen Spielfeld plane.

Wassilij Alekseenko, Generaldirektor Dynamo-Stadion Minsk
„Wir bereiten uns auf die Europaspiele im Juni 2019 vor“, Wassilij Alekseenko, Generaldirektor des Dynamo-Stadions in Minsk

In der Tat wirkt vieles im Alltag wie aus der Zeit gefallen. Man könnte es für anachronistisch halten, dass auf der Straße „Milizionäre“ (und keine Polizisten) für Ordnung sorgen oder dass das staatliche Sicherheitsorgan immer noch „KGB“ heißt. Die legendäre belarussische Schokoladenfabrik hat ebenso ihren Namen behalten: „Kommunarka“. Konservierte Puzzleteile der vergangenen sowjetischen Wirklichkeit – das hat seine Vorgeschichte. Im Gegensatz zur jungen progressiven Regierung Russlands unter Premierminister Jegor Gaidar, die die Bevölkerung einer radikal-liberalen marktwirtschaftlichen Kur unterzogen hatte, entschied sich Präsident Alexander Lukaschenko 1994 gegen diesen Transformationskurs. Wie man diesen Entschluss auch immer bewertet, die katastrophalen sozialen Folgen einer solchen Schocktherapie hatte Präsident Lukaschenko seinem Volk dadurch in jedem Fall erspart.

Trotz der nostalgischen, sozialistischen Oberfläche geht der globale digitale Wandel jedoch an Belarus nicht vorbei. So hat die altehrwürdige „Kommunarka“ neuerdings zeitgenössische Kameraden bekommen, allen voran den „High-Tech-Park" (HTP) und „Great Stone“. Die Affinität von Belarussen für Naturwissenschaften und Informatik ist der Welt spätestens seit dem Stuxnet-Cybervorfall bekannt. Eine heimische IT-Sicherheitsfirma soll 2010 den entscheidenden Hinweis zur Enttarnung dieser Sabotagesoftware in Siemens-Systemen zur Steuerung iranischer Atomanlagen gegeben haben.

Laut Präsidenten-Dekret „Über Digitale Wirtschaft“ von 2017 soll Belarus ein „IT-Land“ werden, wo Technologiefirmen aus den Zukunftsmärkten Künstliche Intelligenz, virtuelle Realität, Blockchain-Technologie, digitale Währungen, autonome Autos und dergleichen mehr attraktive Bedingungen haben. Der „High-Tech-Park“, ein liberales Recht im Umgang mit Kryptowährungen, das seit März 2018 für Residenten des Parks gilt, obendrein eine Kryptobörse – fertig ist die Anfangsinfrastruktur für innovative Feldexperimente. Den HTP gibt es bereits seit 2005. Mit dem „Kryptohype“ ist er regelrecht zum „belarussischen Silicon Valley“ avanciert, in dem auch ausländische Firmen ansässig sind. Viele international bekannte Produkte wie der Messenger Viber und das Onlinespiel „World of Tanks“ stammen aus dieser Techschmiede. Nach dem neuen Recht können die hier registrierten Firmen zum Beispiel virtuelle Emissionen von Bitcoin oder anderen digitalen Währungen probeweise durchführen. Die Residenten genießen ein Sondersteuerregime und damit spürbare Wettbewerbsvorteile.

„Great Stone“ kann man ebenfalls als Symbol für den neuen geopolitischen Kurs sehen. Der Industrie- und Logistikpark in der Nähe des Hauptstadtflughafens soll zum Drehkreuz der interkontinentalen eurasischen „Neuen Seidenstraße“ ausgebaut werden. Die Chinesen haben die Standortvorteile von Belarus – die geographische Lage an der Grenze zur Europäischen Union, das Industriepotenzial, gut ausgebildete Fachkräfte und niedrige Produktionskosten – für Zwecke ihrer „Belt and Road Initiative“ (BRI) rasch ausgemacht. Seit 2017 ist auch der deutsche Duisburger Hafen, der sich als Endpunkt der „Neuen Seidenstraße“ profiliert, als Anteilseigner mit an Bord. Die Idee hinter „Great Stone“ ist, zuerst einen Umschlagplatz für Güter aufzubauen, die hier aus China ankommen und weiter nach Europa geleitet werden. Der nächste Schritt wäre dann eine Veredelung dieser Güter. Gelingt es, so eine höhere Wertschöpfung lokal zu generieren, wäre damit aus belarussischer Sicht viel gewonnen.

Die Landesführung ist über das Interesse der ausländischen Investoren froh. Besonders, da sich in Zukunft durch das sogenannte „Steuermanöver“ in der Erdölbranche in Russland eine Finanzierungslücke abzeichnet. Bisher trugen Einnahmen aus Exporten von russischem Öl, das in belarussischen Raffinerien veredelt wurde, beträchtlich zum Haushalt bei. Fallen künftig Zölle für russische Ölexporte weg, so hat dies finanzielle Konsequenzen für belarussische Importeure, die bisher Rohöl aus Russland zu vergünstigten Konditionen bezogen haben. In dieser Lage kommt der Regierung in Belarus auch die jüngste, erst seit Januar 2019 bestehende Mitgliedschaft in der Asiatischen Infrastruktur und Investitionsbank (AIIB) sehr entgegen. Denn sie bedeutet nicht nur eine Vergrößerung des finanziellen Spielraums, sondern hilft auch, sich von der einseitigen Abhängigkeit von Russland zu lösen.

Minsk Arena
Minsk Arena

Russland ist nach wie vor der wichtigste Wirtschafts- und Handelspartner von Belarus. Seit 1999 verbindet die Länder ein Vertrag über die künftige belarussisch-russische Staatenunion. Zudem gehören beide der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) an, einem Integrationsprojekt aus fünf ehemaligen Sowjetrepubliken. Dank der Zollunion haben beispielsweise Investoren mit Standort in Belarus anstelle des mit etwa 9,5 Millionen Menschen recht übersichtlichen Inlandsmarktes den gesamten Absatzmarkt der EAWU von mehr als 183 Millionen Verbrauchern zur Verfügung. Bis 2025 soll es auf dem Gebiet der EAWU einen Binnenmarkt sowie eine Digitalunion geben. Des Weiteren bleibt spannend, welche Entwicklungen das erste Abkommen über Handels- und Wirtschaftskooperation zwischen der EAWU und China, das im Mai 2018 unterzeichnet wurde, anstoßen wird.

Wenngleich Russland der engste strategische Partner bleibt, muss doch das Verhältnis zum „Großen Bruder", trotz kultureller Nähe und der gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen, ständig neu ausbalanciert werden. Die Krim-Annexion und der bewaffnete Konflikt im Osten der Ukraine haben den Belarussen zu denken gegeben. Die Menschen, die nach der Sowjetzeit ihre nationale Identität gerade zu leben lernen, fühlen im Zuge der Ukraine-Krise Unbehagen bei der Vorstellung einer möglichen Vereinnahmung durch den großen Nachbarn. Die Beziehungen zum Westen, speziell zur EU, sind hingegen von einer Aufbruchsstimmung gekennzeichnet. Zwar lässt ein neues EU-Belarus-Basisabkommen auf sich warten, doch bezüglich der Östlichen Partnerschaft der EU tut sich viel.

Fluss Swislatsch in Minsk
Fluss Swislatsch in Minsk

Wie es weitergeht, bleibt offen. Denn viele grundsätzliche Fragen sind noch ungeklärt. Welches Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell wird Belarus langfristig anstreben? Gelingt es, das Verhältnis zu den beiden Großmächten Russland und China auszubalancieren, ohne dass die Beziehungen zu der EU oder den USA darunter leiden? Wie klug war das Vorpreschen hinsichtlich der Regulierung von Kryptowährungen? Hat man hierbei die Risiken – Haftungsfragen, möglicher Geldwäschemissbrauch, IT-Sicherheit – hinreichend bedacht? Schließlich kann der komplexe Balanceakt nur gelingen, wenn man den Menschen, besonders der kreativen, gebildeten geistigen Elite, Anreize schafft, im Land zu bleiben. Möglicherweise liefert das nächste internationale Medienforum, das in Brest im Mai dieses Jahres stattfinden wird, einige Antworten dazu. Als Symbol eignet sich Brest allemal: Die mehr als eintausend Jahre alte Stadt ist als wichtiger Verkehrsknotenpunkt an der Grenze zu Polen ein wahres „Tor zum Westen".

 

Svetlana Alexeeva, Managing Director DIGITAL INSIGHT CIS, Eurasia & Russia: Svetlana.Alexeeva@digital-insight.de

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