Buenos Aires - Avenida de Mayo
Buenos Aires: Avenida de Mayo

Argentinien im Aufwind

Von Bernd Wulffen, San Miguel de Tucuman

Die Teilwahlen zum argentinischen Kongress am 22. Oktober waren zuletzt vom Fall Santiago Maldonado überschattet. Nach dem Fund seiner (vermutlichen) Leiche im patagonischen Rio Chubut am 17. Oktober waren sein Tod und die möglichen Umstände, die dazu geführt hatten, Medienaufmacher. Viele Argentinier nahmen am Schicksal Maldonados lebhaften Anteil. Die von Präsident Macri geführte Wahlplattform „Cambiemos“ entschied, den Wahlkampf, der gerade in seine Endphase getreten war, bis auf einige Medientermine engster Mitarbeiter, abzubrechen. Fast alle anderen Parteien und politischen Gruppierungen folgten diesem Beispiel. Der junge Aktivist Maldonado hatte sich Ende Juli 2017 einer Gruppe Einheimischer („Mapuches“) angeschlossen, die gegen die angeblich rechtswidrige Aneignung von Grundstücken der Einheimischen durch die Firmengruppe Benetton protestiert und Straßenbarrikaden errichtet hatte. In den Auseinandersetzungen mit den Protestierenden, bei der die Gendarmerie zum Einsatz kam, war Maldonado seit dem 1. August zunächst spurlos verschwunden. Suchaktionen, auch im Fluss Rio Chubut, waren bis zum 17. Oktober ergebnislos geblieben.

Vertrauen für den Präsidenten

Der Versuch peronistischer Oppositionsgruppen, der Bundesregierung den Tod Maldonados anzulasten und dadurch die Wahlen maßgeblich zu beeinflussen – die Gendarmerie untersteht dem Bundesinnenministerium – misslang. „Cambiemos“ konnte, wie erwartet, die Wahlen mit landesweit über 40 Prozent der Stimmen für sich entscheiden und Sitze im Abgeordnetenhaus hinzugewinnen. Besonders schwer wiegt der Sieg von Esteban Bullrich von Cambiemos (41 Prozent) über die Ex-Präsidentin Cristina Kirchner (37 Prozent) in der Provinz Buenos Aires. Es ist die erste Niederlage Frau Kirchners bei einer Wahl. Präsident Mauricio Macri hat mit dem Sieg seiner Wahlplattform Cambiemos (Wir wollen den Wandel) seine Position festigen können. Es wird für ihn einfacher sein, Gesetzesvorlagen im Kongress durchzubringen. Bereits bei den Vorwahlen im August (PASO) zeichnete sich ab, dass ihm eine Mehrheit der Argentinier seine Unterstützung geben würde. Zwar konnte Macri bei den zentralen Themen Armutsbekämpfung, Inflation und innere Sicherheit seit seiner Wahl im Dezember 2015 noch kaum durchschlagende Erfolge verbuchen; es ist ihm aber gelungen, eine gewisse Vertrauensbasis zu schaffen, auf der er wird aufbauen können. Ein wichtiger Teil der Bevölkerung hofft darauf, dass das Land nun endlich den „take-off“ schafft, aus der politischen und wirtschaftlichen Sackgasse herauskommt und endlich wieder den Platz erringt, den es im Konzert der entwickelten Nationen verdient. Sie nimmt Macri den ehrlichen Willen und auch das stete Bemühen ab, die aus ihrer Sicht zwölf verlorenen Jahre Peronismus (Kirchnerismus) zu überwinden.

Cambiemos konnte in den entscheidenden Wahlbezirken den Sieg davontragen. Neben dem Sieg in der Provinz Buenos Aires konnte sich „Lilita“ Carrió mit fast 51 Prozent der Stimmen in der Hauptstadt durchsetzen. Sie gehört dem Wahlbündnis Macris seit 2015 an. In den Schlüsselprovinzen Santa Fe, Córdoba, Corrientes und Entre Rios gewannen die Kandidaten von Cambiemos. In La Rioja, der Stammprovinz des Ex-Präsidenten Menem, gewann ebenfalls der Kandidat von Cambiemos (Menem kam nur auf den zweiten Platz), ebenso in Mendoza und Santa Cruz, der Provinz, aus der die Kirchners hervorgingen. Auch Salta und Jujuy gingen überraschend an das Regierungsbündnis.

Peronisten gespalten

Dem Präsidenten kam zugute, dass die peronistische Bewegung mehrfach gespalten ist und dass Frau Kirchner, die sich eigentlich als die Oppositionsführerin hätte präsentieren müssen, weder den hierfür notwendigen Rückhalt in der eigenen Partei noch in der Bevölkerung besitzt. Sie hatte sich nicht den internen Wahlen des Peronismus gestellt und führt heute eine peronistische Gruppe unter der Bezeichnung „Unidad Ciudadana“ an. Immerhin wird sie nach ihrem relativ guten Abschneiden in der Provinz Buenos Aires einen Posten als Senatorin erhalten. Dies wird ihr helfen, in den Strafprozessen, die aus ihrem früheren Verhalten resultieren, vorläufig nicht verurteilt werden zu können. Die Parallelen zum Fall Menem liegen auf der Hand. Frau Kirchner hat das Auseinanderbrechen in verschiedene peronistische Gruppen weitgehend zu vertreten. Ihre polarisierende Art, ihre Unfähigkeit zum Dialog und ihre Neigung, Entscheidungen nach Gutsherrenart zu treffen, waren nicht der Stoff, der notwendig gewesen wäre, die traditionell auseinanderstrebenden Flügel des Partido Justicialista (Peronisten) zusammenzuhalten.

Für sie und die peronistische Partei wirkten sich die zahlreichen Skandale ungünstig aus, in die sie und ihre politische Umgebung verstrickt sind. Viele Argentinier sind die „Kirchner-Jahre“ leid. Frau Kirchner ist in der Affäre um das 1994 gesprengte israelische Kulturinstitut in Buenos Aires, Amia, wegen Hochverrats angeklagt. Auch schwebt ein Verfahren wegen Geldwäsche gegen sie. Nur wenige Tage vor der Wahl ergab sich, dass die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität eines ihrer engsten Vertrauten, des ehemaligen Planungsministers de Vido, beantragt hat. Dies ist mittlerweile geschehen, und de Vido ist bereits in Haft. Für Argentinien ein unglaublicher Vorgang. Er bedeutet das Ende der Straflosigkeit (impunidad) für korrupte Politiker. Für einige Beobachter ist Frau Kirchner durch ihre Negativschlagzeigen „Verbündete wider Willen“ von Präsident Macri geworden. Sie liefert ihm gute Argumente gegen die peronistische Opposition. Aus ihrer Defensivposition, in die sie in den letzten Monaten immer stärker geraten war, konnte sie keine wahlentscheidenden alternativen Positionen aufbauen. Sie erschöpfte sich in wenig überzeugender Kritik, die sie oft mit unziemlichen Kraftausdrücken verbrämte.

Macris Herausforderungen

Präsident Macri steht vor schwierigen politischen Entscheidungen. Er muss zunächst in der Bekämpfung der Armut vorankommen. Mehr als 30 Prozent der Argentinier leben am Rande oder unterhalb des Existenzminimums. Er muss die Inflationsrate, die immer noch oberhalb von 20 Prozent liegt, unter zehn Prozent drücken. Voraussichtlich wird er dies durch weitere Schuldenaufnahme, keinesfalls aber über die Notenpresse in die Wege zu leiten versuchen. Zahlreiche neue Jobs sollen für mehr Einkommen der unteren Bevölkerungsschichten sorgen. Hierfür braucht er auch die Unternehmerschaft, aber auch die Gewerkschaften (gremios). Er hat einen nationalen Pakt „Gran Acuerdo Nacional“ vorgeschlagen, eine konzertierte Aktion aller maßgeblichen politischen Kräfte, um wichtige Ziele über Dialog und Zusammenarbeit zu erreichen. Eine „Schocktherapie“, wie sie in Argentinien in der Vergangenheit mehrfach angewandt wurde, liegt ihm fern. Vielmehr will er in kleinen Schritten und allmählich seine Ziele erreichen („gradualismo“). Er tut dies nach seinem Wahlsieg aus einer Position der Stärke, die ihn weit über alle anderen politischen Akteure hinaushebt. Seine wichtigste Stütze ist die populäre und charismatische junge Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, Maria Eugenia Vidal, die einen mutigen Kampf gegen Drogenbanden führt, welche die innere Sicherheit des Landes bedrohen. Sie schreckt auch nicht davor zurück, die mit den Banden im Bund stehenden Polizeikräfte ihres Amtes zu entheben und sie unter Anklage zu stellen. Vidal ist so oft bedroht worden, dass sie vorübergehend mit ihrer Familie in einer Armeekaserne Zuflucht nehmen musste.

Die Wahlen vom 22. Oktober haben mehreren Politikern, die sich Hoffnung auf Führungspositionen innerhalb ihrer Parteien machten, herbe Rückschläge versetzt. An erster Stelle steht der junge, ehrgeizige peronistische Gouverneur von Salta, Juan Manuel Urtubey, der einem Kandidaten von Cambiemos unterlag. Auch der recht erfolgreiche peronistische Gouverneur der Provinz Córdoba, Juan Schiaretti, wurde von einem Konkurrenten des Bündnisses Cambiemos geschlagen. Daher stellt sich die Frage, wer der „starke Mann“ oder die „starke Frau“ sein könnten, die Macri in den nächsten Präsidentschaftswahlen 2019 die Stirn bieten könnten. Machtkämpfe im peronistischen Lager sind daher nicht auszuschließen, wobei Cristina Kirchner und der ehemalige Innenminister Florencio Randazzo, ebenfalls unterlegener peronistischer Kandidat, eine Rolle spielen dürften. Auch Sergio Massa, der seit 2015 eine eigene peronistische Partei unter der Bezeichnung „Frente Renovador“ führt und mit der Anwältin Margarita Stolbizer das Wahlbündnis „1 País“ (ein Land) geschlossen hat, rechnet sich im Falle einer Einigung im peronistischen Lager Chancen aus. Wer auch immer den Peronismus führen wird, muss mit einer selbstbewussten Equipe von Cambiemos rechnen, die Persönlichkeiten wie Elisa Carrió, Maria Eugenia Vidal und Marcos Peña (Kabinettschef von Macri) in sich vereint, die an Popularität hinzugewonnen haben und Mauricio Macri bei seinem Bemühen, auch 2019 erfolgreich zu sein, tatkräftig unterstützen dürften.

Argentiniens Wahlsystem

Im Gegensatz zu Deutschland, wo wir es im Wesentlichen mit einer seit Jahren festgefügten Parteienlandschaft zu tun haben, konfrontiert Argentinien den Beobachter mit stets neuen Bezeichnungen für Parteien und Parteienbündnisse. Während ein Teil der Peronisten bei den Wahlen 2015 unter der Bezeichnung „Frente para la Victoria“ (Kirchneristen) antrat, ist dieses Bündnis allenfalls noch auf Provinzebene vertreten. Der Peronismus, eigentlich „Partido Justicialista“, tritt auch unter der Bezeichnung „Frente Justicialista“ auf. In der Hauptstadt Buenos Aires präsentierte er sich als “Unidad Porteña“. Das 2015 erstmals angetretene Parteienbündnis „Cambiemos“, das Präsident Macri zum Wahlsieg verholfen hatte, ging teilweise aus der UCR, der radikalen Partei, hervor und trat noch 2013 teilweise unter der Bezeichnung „Alianza Frente Acuerdo Civico y Social“ an. In Buenos Aires legte es sich die Bezeichnung „Vamos Juntos“ zu. Präsident Macri hatte sich in seiner Zeit als Bürgermeister von Buenos Aires mit seiner Partei „PRO“ erfolgreich zur Wahl gestellt. PRO gehört dem Bündnis Cambiemos an. Vor allem die Spaltung der Peronisten - manche sprechen sogar von „Atomisierung“ - macht die Parteienlandschaft für Außenstehende unübersichtlich.

Das argentinische Wahlsystem geht auf die Reform von Präsident Saenz Peña aus dem Jahre 1912 zurück, die ein allgemeines Wahlrecht für Männer einführte. 1947, unter Perón, wurde das Frauenwahlrecht eingeführt. Das argentinische Wahlrecht folgt, wie auch bei in Deutschland, dem Höchstzahlverfahren d´Hondt. Der Präsident wird für vier Jahre gewählt und ist einmal direkt wiederwählbar. Die Kongresswahlen (Senat und Abgeordnetenhaus) sind jeweils Teilwahlen. Alle zwei Jahre, wie jetzt, wird die Hälfte der Abgeordneten neu gewählt. Auch in acht Provinzen, darunter die Provinz Buenos Aires, werden in diesem Jahr jeweils drei Senatoren (insgesamt ein Drittel der Senatssitze) gewählt.

Cambiemos kann mit 106 Abgeordneten rechnen, benötigt jedoch 129 Sitze für die Mehrheit. Die Peronisten verfügen zwar insgesamt über die Mehrheit der Mandate, sind aber, wie dargestellt, gespalten und zerstritten. Dies könnte es Macri erleichtern, wie bereits in der Vergangenheit, für wichtige Vorhaben Peronisten auf seine Seite zu ziehen.

Die Wahlbeteiligung lag bei knapp unter 80 Prozent.

Dr. Bernd Wulffen war als deutscher Diplomat mehrfach in Lateinamerika auf Posten; zuletzt als Botschafter in Havanna. Er lebt in Berlin und San Miguel de Tucumán (Argentinien)

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