Ukrainische Energiewende

Umbau des Energiesystems und Digitalisierung können Treiber einer volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation in der Ukraine sein

Svetlana Alexeeva

Der tiefgreifende Wandel der Ukraine zeigt sich im Energiesektor besonders eindrücklich. Die Frage der Energieunabhängigkeit hat bisweilen den Rang der nationalen Sicherheit erreicht. Die Lage spitzte sich im Winter 2017 zu, als die Kohlelieferungen aus den Donbass-Regionen Donetsk und Lugansk gestoppt wurden. Daraufhin verhängte Premierminister Wladimir Hrojsman einen Energienotstand, und der Sicherheits- und Verteidigungsrat forderte die Regierung auf, „Maßnahmen zur Neutralisierung von Gefahren für Energiesicherheit“ zu treffen. Die am 18. August 2017 vom Kabinett beschlossene Energiestrategie bis 2035 resultiert daraus.

Der Energiemarkt gilt aufgrund der Abhängigkeit von Russland als politisch sensibel, zudem stark korrumpiert, was das Nationale Antikorruptionsbüro kürzlich wieder bestätigt hat. Die Infrastruktur ist veraltet, die Energieversorgung nach der Blockade der Anthrazitkohle aus dem Donbass gestört. Somit verwundert es nicht, wenn der Premierminister die Annahme der Energiestrategie-2035 „ein historisches Datum“ nennt.

Neue Energiestrategie-2035 will Strukturwandel anschieben

Um die ambitionierten Ziele Sicherheit, Energieeffizienz, Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen und bis 2035 die Hälfte des heutigen Verbrauchs einzusparen, will man das Energiesystem einem Strukturwandel unterziehen. Dabei soll der Anteil der erneuerbaren Energien am Endverbrauch von aktuell fünf auf elf Prozent bis 2020 steigen. Dieses Ziel wurde schon in den Nationalplänen für regenerative Energien und für die Energieeffizienz genannt.

Bis 2035 sollen die regenerativen Energieträger (Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Geothermie) auf ein Viertel der Primärenergiebilanz anwachsen – genauso viel entfällt auf die Kernkraft. Erdöl und Kohle sinken auf 7,3 bzw. 12,5 Prozent, Erdgas steigt auf 30 Prozent. Russische Gasimporte will man durch eigene Kapazitäten ersetzen, einschließlich Schelfgas (Fracking). Bei der Transportinfrastruktur haben Gasspeicher Priorität. Hierbei arbeitet die Ukraine bereits mit europäischen Partnern zusammen. Der Staatskonzern Naftogaz und seine Gastransport-Tochter Ukrtransgaz haben im April 2017 eine Absichtserklärung mit dem italienischen Gasnetzbetreiber Snam und dem slowenischen Pipelinebetreiber Eustream unterzeichnet. Zudem unterstützt die EU-Kommission das ukrainische Energieministerium bei der Analyse der Untergrundgasspeicher.

Tiefe Einschnitte erwarten den Kohlebergbau (aktuell 30 Prozent des Energiemix), der nicht nur unrentabel, sondern auch im umkämpften Donbass konzentriert ist. Die Ukraine kommt um die Stilllegung von Kohlekraftwerken auch mit Blick auf das Pariser Klimaabkommen nicht herum. Das Land hat sich verpflichtet, den CO2-Ausstoß bis 2035 im Vergleich zu 1990 zu halbieren.

Zukünftige Stromnetzintegration mit der EU

Dass das Stromnetz bis 2025 mit dem Netz der EU synchronisiert wird, ergibt sich infolge der europäischen Integration der Ukraine. Technischen Modalitäten sind im ENTSO-E-Abkommen („Connection Agreement“) zwischen dem staatlichen Netzbetreiber „Ukrenergo“ und dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber 2017 festgelegt. Ist es einmal umgesetzt, wird die Ukraine vom historisch gewachsenen Elektrizitätsregime mit Russland und Belarus abgekoppelt.

Sergey Savchuk, Chief of the State Energy Efficiency Agency, Ukraine
Sergey Savchuk, Chief of the State Energy Efficiency Agency, Ukraine

 

Wie sind die Neuerungen zu bewerten? Zunächst ist eine Wende zu mehr regenerativen, weniger fossilen Energienarten sowie Energieeffizienz gut, weil sie nachhaltig ist, zudem passt sie zum Kurs auf Unabhängigkeit. Für Sergij Savchuk, Leiter der Staatlichen Agentur für Energieeffizienz der Ukraine (SAEE), ist „grüne“ Energie ebenso „ein Instrument der regionalen Entwicklung“, welches der Gemeindewohlfahrt zugute kommt. In der Region Lwiw hat die SAEE bereits in sechs Städten und 285 Institutionen das Energie-Management auf Tagesbasis eingeführt, Einsparziel: 20 Prozent.

Ein eindringliches Beispiel ist ebenso „Chornobyl Solar“. Investoren aus den USA, Kanada, China und Deutschland sollen Interesse am geplanten Gigawatt-Solarpark im Sperrgebiet von Tschernobyl gezeigt haben. „Wenn man dies mit Agro-Photovoltaik verbinden würde“, rät Hans-Josef Fell, „könnte man vom Acker Solarstrom und Biokraftstoffe zugleich erhalten“.

Einheimische erneuerbare Energien als einzige ökonomisch und ökologisch sinnvolle Lösung

„Ein rascher Einsatz von Energieeffizienzmaßnahmen und der Umstieg auf einheimische, erneuerbare Energiequellen ist die einzige nachhaltige sowie ökonomisch und ökologisch sinnvolle Lösung für die Ukraine“, urteilt Hans-Josef Fell, Präsident der EnergyWatch Group (EWG) im Gespräch mit BUSINESS & DIPLOMACY. Die Ukraine verfüge dank Freiflächen über ein enormes Potenzial für sämtliche Arten der erneuerbaren Energien. Der Autor des Entwurfes Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) 2000 spricht sich für ein System aus, das zu 100 Prozent auf den regenerativen Energiequellen basiert. Zum gleichen Ergebnis kommt auch die aktuelle Studie der Lappeenranta University of Technology aus Finnland „Transition towards a 100% Renewable Energy System by 2050 for Ukraine“.

Will die Ukraine die Zukunftsvision einer unabhängigen, stabilen, effizienten und ökologisch sauberen Energieversorgung realisieren, so scheint dies nur durch mehr Energieeffizienz – in Gebäuden, Netzen, Verkehr, Industrie – und den Ausbau erneuerbarer Energien zu funktionieren. Dies setzt ein neuartiges Energiesystem – vernetzt, digital und dezentral – sowie aktive Partizipation und Inklusion voraus: innovative Energie-Start-ups, Smart City-Ansätze, „Prosumer“ statt Durchschnittskunden. Dass nunmehr auch Privathaushalte ihren ins Netz eingespeisten Solar- und Windstrom zum „Grünen Tarif“ abrechnen können, ist ein wichtiges Signal. Aus der Sicht von Sergij Savchuk gehöre er zu den attraktivsten in ganz Europa, auch dank der Anbindung an den Eurokurs bis 2030.

Geschäftschancen für Investoren und innovative Energie-Start-ups

Für Investoren und ausländische Energieunternehmen bedeutet die Neuausrichtung der Ukraine vielfältige Geschäftschancen. Pluspunkte sind vor allem die Bevölkerungszahl (42,4 Millionen), Qualität des Humankapitals, Ressourcenreichtum und die Fläche des Landes als zweitgrößtes Staatsgebiet Europas. Die SAEE beziffert den Investitionsbedarf allein im regenerativen Sektor bis 2020 mit 12 Milliarden Euro. Technische Assistenz und Energie-Know-how sind gefragt, wenngleich es auch nationale Initiativen wie „Greencubator" – ein sogar außerhalb der Ukraine bekanntes Netzwerk für nachhaltige Energie-Start-ups – gibt. Für nähere Informationen können Investoren die UAMAP, eine interaktive Karte (www.uamap.org.ua/), konsultieren, die zusammen mit der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) entwickelt wurde.

 

Summary

The profound transformation of Ukraine is particularly striking in the energy sector. In order to be competitive and attractive as an investment location, the second-largest state in Europe in terms of area has to become independent of energy imports. This is to be achieved by means of a radical transformation of the old energy system, greater energy efficiency and the expansion of renewable energies. The Ukrainian government has laid the groundwork for these developments with the 2035 Energy Strategy and other laws. This strategic reorientation of Ukraine will mean diverse business opportunities for foreign investors and companies active in the energy industry. In the renewable sector alone, investments of 12 billion Euro will be required by 2020.

 

Svetlana Alexeeva

ist Expertin für Digitale Wirtschaft, Internetpolitik, Cybersicherheit sowie Inhaberin von «DIGITAL INSIGHT Russia, Central & Eastern Europe»: Svetlana.Alexeeva@digital-insight.de

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